Meine Mama

Wenn ich manchmal so dasitze und vor mich hin starre, ganz in mich gekehrt, „Löcher in die Luft starre“, dann fällt mir meine Mutter ein. Oft hat sie dagesessen und vor sich hin gestarrt. Und oft kam ein tiefer Seufzer aus ihrer Brust, wie ein Aufatmen nach langem Luftanhalten. In diesen Seufzern spürte ich immer Beides: Die lange aufgestaute Not und die Erleichterung, wenigstens ein bißchen davon nach Außen zu bringen. 

Ich erinnere mich, wie sie ein Formular ausfüllte. Bei „Beruf“ schrieb sie „Hausfrau“ und fügte laut hinzu: „Hausfrau und Mutter“. Ihr Leben lang war das ihr Beruf. Nachdem mein Vater früh gestorben war, da war sie gerade mal um die Vierzig, hat sie sich alleine um uns drei Kinder gekümmert. Mein großer Bruder vierzehn, ich sieben, meine Schwester fünfeinhalb. 

Tod

Es gab noch ein anderes Kind. Sie starb als kleines Mädchen im Alter von drei Jahren, ein süßes Blondschöpfchen. Für die Eltern ein unbegreiflicher Verlust. Meine Schwester erzählte mir mal, daß die Eltern eigentlich keine weiteren Kinder mehr haben wollten. Nachdem die große Schwester gestorben war, hätten sie nochmal auf ein Mädchen gehofft. Dann kam ich, ein Junge, und dann noch das erhoffte Mädchen, eben meine kleine Schwester. Der Verlust von der älteren Schwester und später vom Vater, waren wohl Ursache dafür, daß mein Leben zunächst eine Suchbewegung war und nicht geradlinig verlaufen konnte wie bei meinen Geschwistern. Für meine Mutter waren das Schicksalsschläge, die sie aber nicht verzweifeln ließen; sie hielt den Blick nach vorne gerichtet, es mußte/sollte weiter gehen.

Krieg

Meine Mutter war ein Kriegskind. Acht Geschwister, zwei ihrer Brüder sind im Krieg geblieben. Ihre Fotos hingen in der Küche neben dem Kruzifix, an dem immer ein frisches Zweiglein steckte. Die Zeit nach dem Krieg muß schwer gewesen sein. Acht Kinder, die sich einen Salzhering teilten, dazu Kartoffeln, die auf den Feldern der Bauern liegen geblieben waren, dort gesucht und eingesammelt wurden. Oft haben sie gehungert. 

An die Hitlerjugend hatte sie nur gute Erinnerungen. Dort war sie mit Gleichaltrigen, machte Sport, es war gesellig. Mit Politik hatte sie nichts am Hut. „Die machen eh was sie wollen“ ihr Statement. Sonst erzählt sie nicht viel von damals. Es sei ja nicht alles schlecht gewesen. Wirklich ins Gespräch komme ich mit ihr darüber nicht. Ich bin aber auch immer etwas gehemmt ihr gegenüber. Vermeide alles, was Schmerz in ihr auslösen könnte. Als die Nachricht vom Tod meines Vaters kam, Arbeitsunfall an einem Sommertag, völlig unerwartet, habe ich sie nur einmal aufschreien gehört, weinend lief sie mit einer Tante ins Schlafzimmer, Tür zu. Ich stand völlig belämmert da, wußte nicht, was los ist. Aber das wollte ich nicht noch einmal erleben. Mein Vater war ab da für lange Jahrzehnte kein Thema mehr. Es fiel mir sogar schwer, das Wort „Papa“ überhaupt auszusprechen, es war wie zweimal „Pa! Pa!“ zu sagen, Ablehnung und Unverständnis.

Leben

Als mein Vater noch lebte, fanden die Familienfeiern oft bei uns statt, in einem kleinen Haus mit Zwanzig-Quadratmeter-Zimmerchen. Es waren oft zwei Dutzend Leute, die verköstigt wurden. Viele der Frauen halfen zusammen in der Küche. Ich habe keine Ahnung, wie alle Gäste an den Essenstisch paßten. „Esst noch, hinten ist noch!“ war der Spruch, den meine Mutter von ihrer Mutter übernommen hatte. Mit hinten war die Küche gemeint. (Dort war auch, als die Großeltern noch lebten, ein Ziegenstall untergebracht.) Jedenfalls gab es immer reichlich, Knödel und Braten und Salate, und die Feste waren vielen Gästen unvergesslich.

Sie konnte gut haushalten, war sparsam, verwendete die Ressourcen gut. Wir hatten drei Gärten, nicht am Haus, alle in einiger Entfernung. Aber sie versorgten uns mit Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, und der eine am Hang des Wolkmanns mit Äpfeln, Pfirsichen und Kirschen. Die Erntezeit war immer eine Hoch-Zeit. Kisten mit Äpfeln auf großen Holzschubkarren nach Hause fahren, vorsichtig, daß sie keine Druckstellen bekamen, und dann einlagern für den Winter. Fallobst wurde in Säcke gepackt und zu Hause zu Kuchen verarbeitet oder eingemacht. Der Backofen am Holzherd mußte nicht extra angeheizt werden, man konnte einfach Äpfel reinlegen, um sie in wunderbare Bratäpfel zu verwandeln. 

Mangel

Sie las Liebesromane und strickte mit Begeisterung. Ich habe bestimmt zwanzig Paar Wollsocken, die ich nach einer Weile zu schätzen lernte, gaben sie doch schön warm im Winter. Wir waren uns nie körperlich nah, was mir auch zeitweise sehr gefehlt hat. Ein Händedruck zur Begrüßung war alles was ging. Doch sie war immer verlässlich da, auch wenn mein Lebensstil ihr Sorge bereitete. Waren die Geschwister doch beide gut untergekommen; ich blieb das Sorgenkind. Später, wenn ich sie mit Eva besuchte, spürte ich ihre Erleichterung, daß aus diesem Sorgenkind doch noch was geworden war. 

Sie wollte nicht ins Altenheim, war ärgerlich, weil es sich am Schluß nicht vermeiden ließ. Der Aufenthalt dort war kurz, zum Glück, denn die Umgebung war deprimierend. Viele der Alten waren resigniert oder dement; wie kleine Kinder, aber giftig, frustriert und böse. Meine Mutter war auf ihrem Zimmer, konnte nicht mehr aus dem Bett und verstarb dann kurz darauf. 

Dank

Heute bin ich ihr dankbar für alles, was sie getan hat für mich und für ihre Beständigkeit trotz aller Schicksalsschläge. Lange Zeit war die Beziehung zu ihr schwierig, und letztendlich weiß ich nicht, ob ich ohne das Familienstellen die Beziehung hätte klären können. So konnte ich doch noch zwei Jahrzehnte die Liebe so zulassen, wie sie möglich war, ohne daran rumzunörgeln. Unsere „Beziehungsklärungsgespräche“ waren kurz, manchmal war es nur ein Satz von mir oder ihr. So daß ich ihr mal so nebenbei gesagt habe, daß ich sicher kein einfaches Kind für sie gewesen bin. Ich hatte den Eindruck, daß sie das verstand und daß sie sich darüber gefreut hat.

 

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