Das süße Lied verlorener Menschlichkeit

Zur Menschlichkeit als Haltung der Liebe finden

Mein Vater hatte Geburtstag, achtundachtzig Jahre umfasst seine Lebensspanne jetzt. Was kann ich sagen? Zu seinem Geburtstag empfing er mich in seinem Sessel mit einem Glas Wein und gleichzeitig mit einem Glas Schnaps. Sich zu Tode zu trinken, das hat er bisher nicht geschafft. Hin und wieder versucht er es. Dem Alkohol standzuhalten gelingt mir nur für eine kurze Zeit, wenn ich mit ihm zusammen bin. Es gilt andere, kreativere Dinge für mich zu tun und mich zurückzuziehen.
Am nächsten Morgen ist es einfach ein alter Mann, der sein Leben lebt und es akribisch in Ordnung hält. Tut was getan werden muss, um zu Hause bleiben zu können mit achtundachtzig Jahren. Den Garten gewissenhaft zu pflegen. Zu putzen, zu waschen, zu kochen, sich versorgen, den Haushalt zu pflegen, so weit es geht. Ohne Frau. Ich glaube, nicht immer ein leichtes Unterfangen für einen alten Menschen.

Deutschlands verlorene Menschlichkeit
Was meinen Vater geblieben ist in seinen achtundachzig Jahren ist ein heiliger Zorn. Auf Ungerechtigkeiten, Krieg, Gewalt, Mord, Soldaten, Einsätze, Völkermord und verlorene Menschlichkeit. Schickt Sinfonieorchester und Künstler in Krisen- und Kriegsgebiete ist sein Devise. Schafft ein Feld der Inspiration und Liebe. Öffnet euch für das Verbindende, für Menschlichkeit. Für den Lichtstreif am Horizont. Den Frieden, die Versöhnung und die Liebe. Für eine andere Einigkeit. Hat er damit Unrecht? Ich weiss es nicht, aber es auszuprobieren wäre eine andere Alternative. Visionen kreieren mit Musik und Kunst und Menschlichkeit. Denn Krieg mit Krieg zu bekämpfen, den Schatten auszuklammern und zu verdammen, das funktioniert ja nachweislich nicht. Den Schatten im Inneren zu schauen, das habe ich von ihm gelernt. Das ist sein Vermächtnis an mich. Ein heiliger Zorn ist ihm geblieben für die Liebe, das Mitgefühl und Heilung in dieser Welt. An diesem Punkt sind wir uns vertraut und nah.
Mein Vater war mit 16 im Krieg, in Polen und in Frankreich. Er sah seine Kameraden sterben. Er sah vermeintliche Feinde sterben. Er verlor vielleicht eine jüdische Halbschwester, ein Kind meines Großvaters, aus einer anderen, späteren Verbindung. Die Mutter dieses Kindes, die Geliebte meines Großvaters, war die Klavierlehrerin meines Vaters. Mein Vater überlebte den Krieg mit einem Rückenschuss, viel Trauma, viel Hilflosigkeit, viel Wut und einer Sehnsucht nach nachhaltigem Frieden. Einer Sehnsucht nach Gesprächen. Er überlebte mit heiligem Zorn. Die Klavierlehrerin überlebte nicht, die Tochter auch nicht. Mein Vater weigerte sich jetzt nach dem Krieg nun öffentlich Klavier zu spielen – die beiden anderen hat es ja das Leben gekostet. Sie waren ermordet, tot.

Das Lied verlorener Menschlichkeit
Das Klavier singt jetzt in unserem Haus, meinem Elternhaus, von dem Leid; spielt seine süße, sanfte, todessehnsüchtige Melodie. Küsst die Toten. Nicht in Konzerthäusern wie geplant, sondern privat an freien Tagen, Sonntagen, abends und nachts. Es erzählt von der Liebe zu Deutschland, zu den Überlebenden; und von den Toten, von unseren menschlichen Werten, von unserer, wie es manchmal scheint verlorenen Menschlichkeit.  Was geblieben ist – ist heiliger Zorn – Musik, zarte Töne eines Seins. Achtundachtzig Jahre Leben in Verzweiflung, Sehnsucht und Liebe.

Familienaufstellungen helfen dabei weiter, sich auf einer tiefen Ebene mit Trauma und Schicksel, mit unseren Ahnen und Eltern zu versöhnen. Erfahre die heilende Wirkung.

 

 

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